Angizia

Spatherbst 1832/kronstadt

Angizia
Das Tagebuch der Hanna Anikin wurde vor Fertigstellung der musikalischen
Vertonung erst (namenlos) auf 36 wunden Seiten aufgeschrieben, gebar mir
Verschuchtertes, Wesenloses, wunschlos Ungluckliches und unterschiedliche
Interpretationsmodelle meines eigenen Briefromans, die jen' lyrisch
bezeichnenden Hintergrund fur Vertonung und Komplexdeutung zum einzig
denkbaren werden lielen. Hanna Anikin tragt den skandinavischen Namen
ihres Vaters Ulmo, der an Gelbsucht starb, und das Anikingeschlecht nach
Veraulerung des finnischen Joensuugehofts 1824 in Kronstadt selhaft werden
liel. "Bleiche Gesichter wallten auf eschenen Holzern, wo Wasser schon
kalt war und schneeweil die Eisdecken, mit Seilen und Mastbaum gestutzt,
eine Wiege pendelte im Senkblei, und quirlend das finnische Kaumboot im
Sog verkannte win Ziel ohne Namen. Die alten Fischer aus St. Petersburg
waren die See hinausgefahren, bargen das kaltgefrorne Antlitz ihrer
Gesellen, warben fur eine russiche Gesselschaft und die Sozialisation
verworrener Armseliger in ein einseitiges Weltbild". 1832 starb Hannas
Mutter einen langersehnten Tod, Grolvater Serjoscha wurde erschossen, ehe
Hanna die Auslee atypischer Aufzeichnungen anomaler/entarteter Stilfiguren
in einem Tagebuch festschreibt dabei eine sehr unharmonische
Gegenstandlichkeit entsteht. Die Memoiren waren raumlos, vielseitig und
schliellich "auditiv", das Prozessieren der Geschichte die "black box" der
Psychologie.

Das bleiche Erinnerungswundmal der Hanna Anikin setzte ich in
allegorische Formen, wie sie plakativ bei einem Schachspiel anmalen, und
gleichgultig, von Tisch zu Tisch verschieden, wie die Figuren auch, uber
das Holzbrett geraumt werden. Ein geschichtlicher Gesichtskreis maligt
neurotischen Argwohn des 'Schachbauern' und das 'Lakaisiegel' seines
gebrechlich-schamhaften Holzstandbildes ("als Malstab fur die 'kleine',
leise Spielgeselichaft seiner Zeit, seines 'Spiels' und seiner
Kaum-Machenschaft"). All notorisch (teils) anumalische Deutung
zwischebmenschlichter Beziehungen, Erlebnisse, Greuel und Frauenleiden
dieser Geschichte entstammen dem Impuls fingierter Aufzeichnungsprozesse
der Hanna Anikin als briefromanish verwendete Leitfigur (da nie
tatsachlich in Leben) ein Fundament an humaner und starr russisch
soziokultureller Schichten zu gradieren (und reflektieren). Rege
Sinnbildanalysen und monotone, leicht ruhrende Gefuhlsbauten gibt es hier
keine. Fur Angizia entstand damit ein erster Teil fur eine sehr
zielfuhrende, rullandorientierte Trilogie, die sich musikalisch und teils
auch literarisch doch sehr ungleich fortseizen wird. Hanna Anikin gab mir
redlich und integer etwas mehr an Platz fur aufbewahrte Gedanken,
unkonventionelle Themenkreise und unterschiedlichen Sprachgebrauch, sei es
denn, dal die Hauptfigur in einem Bereich verwirklicht wurde, der meine
momentane Distanz zu russischem Soziolekt darstellt und ein
russisch-literarisches Motiv unbedingt von aulerrussischem Standpunkt
ansehlich realisiert wurde. Ich selbst war dabei irgendwo ein Bauer, den
die Nahe der Konigin faszinierte. Und ich hegte so etwas wie eine
Gewirtheite Im Verlaufe der Partie wurden wir uns naher kommen. Engelke im
Juli 1997 und weit entfernt von Kronstadt.

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