Wer nicht mehr zu verlieren hat
Juliane werdingDie Stadt war dunkel und lag schon im Bett und fror genau wie ich.
Da sprang aus einer Toreinfahrt ein fremder Mann und drückte mir die Kehle zu.
Und er schrie nach meinem Geld, doch ich sagte nur, ich bin genau so arm wie du.
Und außerdem, eh Mann, wegen so 'nem Quatsch kriegen die dich nochmal ran.
Doch er schüttelte nur leicht mit seinem Kopf und knurrte mich dann an.
Bist du erst mal so weit wie ich, dann wirst du schon erkennen,
Wer nichts mehr zu verlieren hat, der kann nur noch gewinnen.
Er riß an meinem Mantel, und er zerrte an mir rum, und sein Atem, der ging schwer.
Und außer ein paar nassen Zigarettenkippen waren alle meine Taschen leer.
Und er sagte, seine Mutter, seine Freunde, seine Frau, die hätten ihn auf dem Gewissen.
Wegen irgendeiner kleinen dummen Sache hatte er 'ne kurze Zeit gesessen.
Und so gerne würd' er wieder auf die Beine kommen und hätte es zu was gebracht.
Und so fluchte er laut und weinte auch: Das habt ihr nun aus mir gemacht.
Bist du erst mal so weit wie ich, dann wirst du schon erkennen,
Wer nichts mehr zu verlieren hat, der kann nur noch gewinnen.
Sein Gesicht war 'ne Mischung aus Schutt und Asche, und er roch nach Alkohol.
Und er sagte noch: von eurer Zivilisation habe ich die Nase voll.
Ich hol' mir, was ich brauch', sonst macht sie mich kaputt, hey, ist dir das endlich klar?
Und dann nahm er meine paar nassen Zigarettenkippen und verschwand, wie er gekommen war.
Und da stand ich nun und irgendwas, das rief ich ihm noch nach.
Und das war 1975 meine kälteste, kälteste Nacht.
Bist du erst mal so weit wie ich, dann wirst du schon erkennen,
Wer nichts mehr zu verlieren hat, der kann nur noch gewinnen.
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